Oettinger, eine Karriere
Expansion von der heimischen Garage aus in alle Welt
Noch lange Jahre nach der Gründung des Ingenieurbüros Oettinger am 21. August 1946 war dessen Adresse die elterliche Villa in Friedrichsdorf bei Frankfurt und dort zunächst die hauseigene Garage. Der Diplomingenieur Gerhard Oettinger reparierte mit zwei Mitarbeitern alles, was fahren sollte, doch den Dienst verweigerte. Vor allem aber befasste er sich gleich mit den „CCG“-Käfern der allerersten Nachkriegszeit.
1951: Okrasa machte die „Beetles“ in den USA schnell
1951 führte er den Namen Okrasa (Oettingers Kraftfahrttechnische Spezialanstalt) ein. Am Ende desselben Jahres begannen sich die Amerikaner, die den VW Käfer nur „Beetle“ nannten, für die leistungssteigernden Okrasa-Anlagen der zweiten Generation mit Doppelvergasern und Doppelkanalzylinderköpfen zu interessieren. Auf dem US-Markt war Oettinger fortan besonders erfolgreich. Von den etwa 16.000 Okrasa-Anlagen in den 50er Jahren wurde ab 1955 der überwiegende Teil in die Vereinigten Staaten exportiert. Ende der 50er Jahre beschäftigte Oettinger bereits 20 Mitarbeiter, die bis zu 20 Käfern in der Woche Beine machten. Das alles geschah jetzt allerdings in einer neben der heimischen Villa gebauten Fabrikationshalle. Zu Beginn der 60er Jahre wollte eine amerikanische Warenhauskette Oettinger-Motoren und Zubehör-Aggregate vertreiben. Doch die potenziellen Kunden zogen den Kauf über Stützpunkthändler vor. Diese Marketing-Idee war also genial gescheitert. 1964 richtete Oettinger schließlich in den USA eine eigene Depandance ein.
1963: Mach 1-Mania in Belgien
1963 trat der VW-Generalimporteur von Belgien, D´leteren Fréres an Oettinger heran, um eine sportliche Käfer-Kleinserie untere dem Namen „Mach 1“ für das Nachbarland aufzulegen. Innerhalb von 30 Minuten waren 200 Kaufverträge abgeschlossen. Doch unterband die Konzernspitze in Wolfsburg erzürnt das Projekt, als die „Welt am Sonntag“ kontraproduktiv formulierte: „Die richtigen Volkswagen werden in Brüssel gebaut.“
Anfang der 60er Jahre expandierte Oettinger nach Australien. Für einen Hersteller von Kunststoffkarosserien lieferte Okrasa komplette Fahrgestelle und getunte Motoren. Immer noch wurde das Unternehmen in der Friedrichsdorfer Villa mit inzwischen 25 Mitarbeitern gehandelt. Das änderte sich erst 1977, als Oettinger im Oktober in den großzügigen Neubau nach Friedrichsdorf an der Autobahn Frankfurt-Kassel umzog. Allerdings existierte bereits seit 1966 auch ein großzügiger Oettinger-VW-Händlerbetrieb in Frankfurt - ebenfalls ein Meilenstein in der Firmengeschichte.
1980: 16 S-Hype in Frankreich
1978 beteiligte sich Oettinger an einem Unternehmen in Baden Württemberg, das Motoren-, Getriebe- und Fahrwerkskomponenten für Straße und Rennstrecke fertigte. Hier wurden fortan die Spezialteile für die Vierventil-Zylinderköpfe hergestellt. Mit Unterstützung des Volkswagenwerkes öffnete sich 1978 für Oettinger auch der Schweizer Markt. 1980 feierte Oettinger mit dem Sondermodell Golf GTI 16 S, das den ersten Vierventilmotor für Serienfahrzeuge weltweit besaß und komplett in Friedrichsdorf umgebaut wurde, in Frankreich große Erfolge. Die extrem leistungsfähigen Oettinger-Vierventil-Aggregate wurden anschließend in alle Welt exportiert.
1982: Expansion nach Japan
1982 fand Oettinger auch einen Repräsentanten für das wachsende Interesse südlich der Alpen. Bonaldi in Bergamo wurde Generalimporteur für Italien. Im selben Jahr übernahm der holländische V.A.G.-Importeur Pon's auch den Oettinger-Vertrieb im Nachbarland. Gleichzeitig fasste Oettinger über Stützpunkthändler in Norwegen Fuß. Importeur in Japan wurde 1982 die Continental Products Company in Tokio. Zwei Jahre später konnten belgische Oettinger-Fans ihre Autos in Boussu bei Ets. Dubois bestellen. Dieser Händler war auch für einige französische Regionen zuständig. 1985 kündigte der Spatenstich eines Erweiterungsgebäudes die unaufhaltsame Expansion von Oettinger an.
1988: Oettinger auf allen fünf Kontinenten
1988 gründete der Ministerrat der Sowjetrepublik Estland mit Oettinger ein Joint Venture. Esttec hieß das Unternehmen in gekonnt geografischer Anspielung. Inzwischen war auch das Stützpunkt-Händlernetz in Deutschland so weit gediehen, dass kein Kunde weiter als 90 Kilometer bis zum nächstgelegenen Oettinger-Spezialisten fahren musste. Den Oettinger-Partnern standen speziell entwickelte Leistungsbausätze zum Einbau vor Ort zur Verfügung.
Immer, wenn der Diplom-Ingenieur Gerhard Oettinger in dieser Zeit auf seine unglaubliche Unternehmer-Biografie seit 1946 zurück blickte, konnte er eine brillante Bilanz ziehen: über 100 Mitarbeiter allein in seinem Tuningbetrieb, 42 Stützpunkthändler in Deutschland und ein internationales Händlernetz in allen fünf Kontinenten von Santa Ana in den USA über Taipei (Taiwan) und Johannesburg (Südafrika) bis Sydney (Australien). Dazu eine weltweite Reputation...
2014: Oettinger und die Kompetenz-Kontinuität
Doch wie es schon viele Tragödien der Weltliteratur lehrten, kann extremer Erfolg den Menschen am Ende zu Allmachtsvorstellungen verleiten. Oettinger begab sich in seinen letzten Jahren auch auf fremdes Terrain und musste für diese Fehleinschätzung bitter büssen. Sein Engagement im Baugewerbe und in der Immobilienbranche zerstörte zwar nicht seinen weltweiten großartigen Ruf als kongenialer Konstrukteur und respektierter Übervater aller Tuner, dafür aber seine individuelle Karriere. So musste er - fünf Jahre vor seinem Tode - am 31. März 1992 Insolvenz aller seiner Unternehmungen anmelden. Bereits einen Tag später führten die Mitarbeiter des Diplom-Ingenieurs die Tuningfirma Oettinger im „Management Buy out“ weiter. Bis heute garantierten sie Kompetenz- und Qualitätskontinuität, denn nicht wenige von ihnen haben noch die 80er Jahre bei dem hessischen Edeltuner miterlebt. Seit 2011 führt Rainer Friedmann bei der Oettinger Sportsystems GmbH als Geschäftsführer die unternehmerischen Geschicke. Der Fabrikant produziert in Offenburg Kunststoffteile – unter anderem für die Automobil- und Zulieferindustrie.