Die Oettinger-Scirocco 1-Story

„Winds of change“

Ende der 60er Jahre ergriffen die legendären „winds of change“ in aller Heftigkeit Besitz vom Volkswagenwerk. Sie erhielten auch rasch Namen und sollten Scirocco, Passat und Blizzard heißen. Nach 21 Millionen produzierten Käfern endlich weg vom antiquierten, luftgekühlten Boxermotor im Heck und allerschnellstens hin zum hochmodernen Baukastenprinzip und wassergekühltem, vorn quer eingebauten Reihenmotor mit Frontantrieb – so lautete die längst überfällige Konzernaufgabe in der Ära nach Professor Heinrich Nordhoff. Doch „Blizzard“ ging nicht, eine Ski- und eine Reifenfirma hatten sich die Bezeichnung schützen lassen. Die alternative Namensfindung mündete in „Golf“.

Italdesign-Chef Giorgio Guigario erhielt den Auftrag, Passat und Golf zu gestalten. Er zeichnete dazu noch Coupe-Entwürfe in aufregender Keilform. Im März 1973 wurde der Karmann-Ghia-Nachfolger auf dem Genfer Automobilsalon präsentiert. Ein Jahr später kam noch vor dem Golf der Scirocco (werksinterne Bezeichnung: Typ 53) mit drei Motor-Alternativen aus dem Konzernregal auf den Markt: 1,1 Liter (50PS) und 1,5 Liter (70 und 85 PS).

Der Wüstenwind – für Oettinger ein laues Lüftchen...

Der heiße Wüstenwind Scirocco, der nun aus Wolfsburg (Niedersachsen) blies, wurde im benachbarten Bundesland naturgemäß als eher laues Lüftchen registriert. Tuner Oettinger aus Friedrichsdorf (Hessen) machte sich umgehend Gedanken um eine Leistungssteigerung der neu entwickelten VW-Audi-Motorenreihe EA 827. Sie sollten viele Jahre später (1981) in einer sensationellen Entwicklung gipfeln: die des ersten 16-Ventiler-Motors für Großserienfahrzeuge weltweit! 

Doch schon 1975 war ein etwa 100 PS-starker Oettinger-Motor mit mechanischer Pierburg-CL-Einspritzanlage fertig. Er ging zwar nie in Serie, wurde aber weiter entwickelt und später im Rennsport mit großem Erfolg eingesetzt. 

Gleichzeitig nahmen sich die Friedrichsdorfer Ingenieure den Scirocco mit 1,6-Liter Vergasermotor vor. Neue Flachkolben, größere Einlassventile, ein bearbeitetes Ansaugrohr und der Solex-Registervergaser 2 B führten zu einer Leistungssteigerung von 75 PS auf 100 PS. Die abschließende Abgasprüfung stellte keinerlei Hürde dar. Statt 19 Sekunden brauchte der Oettinger Scirocco 1600 VS nur noch 13,5 Sek von Null auf 100 km/h. „Noch mehr als die Messwerte beeindruckte die Art und Weise der Leistungsentfaltung,“ erfuhren die Leser von „sport auto“ in Ausgabe 03/1976. Der Tester zeigte sich begeistert vom „mühelosen, kraftvollen, leichtfüßigen Hochdrehen“. 

„sport auto“: Oettinger Scirocco GTI hat „den besten Vierzylinder der Welt“

Dieses spezifische Oettinger-Merkmal zeichnete auch die Optimierung des Scirocco GTI- und GLI-Motors im Jahre 1976 aus. „Hubraum ist durch nichts zu ersetzen als durch Hubraum,“ sagte Diplomingenieur Gerhard Oettinger und präsentierte eine1,8-Liter-K-Jetronic-Einspritzerversion mit 125 PS (statt 1,6 Liter und 110 PS ab Werk). Dabei kam ihm wieder einmal seine im Studium und an der Darmstädter Staatlichen Materialprüfungsanstalt erworbene Werkstoffkunde zu Gute. Denn bereits 1955 hatte er eine geschmiedete, extrem belastbare Hochleistungskurbelwelle aus Chrommolybdänstahl entwickelt, die er fortan immer wieder als Wunderwaffe zur Hubraumsteigerung einsetzte. So auch in diesem Falle: mit 90,5 mm Hub bei gleichbleibender Bohrung ergaben sich 0,2 Liter mehr Hubraum. Ein modifizierter Zylinderkopf mit größeren Einlass- und Auslassventilen verbesserte die Atmung. „In der 'sport auto'-Mannschaft herrschte seltene Einigkeit,“ heißt es in einer Würdigung dieses sportlichen 125-PS-Aggregates in Heft 12/1976. Oettingers Prachtstück gebühre zweifellos der Ehrentitel „bester Vierzylinder der Welt“. Dabei sei BMWs Paradetriebwerk durchaus in die Überlegungen einbezogen worden. „Auch ein Lotus-16-Ventile-Zweiliter muss zurückstehen, der VW Oettinger schlägt sie alle.“ Der Ritterschlag bezog sich vor allem auf Laufruhe und Drehmoment-Zuwachs. Schließlich imponierte den Testredakteuren der Wert für den Kilometer mit stehendem Start. „Eine Sensation!“ schwärmten sie. Denn mit 29,9 Sek ließ der Oettinger Scirocco GTI einen BMW 528 oder einen Mercedes Benz 280 SL hinter sich. Der spätere Fußballweltmeister Bernd Hölzenbein war einer der ersten, der in den Genuss der Oettinger-Rakete kam. 

Doch das alles genügte den hessischen Toptunern noch nicht. In einem weiteren Schritt wurde der Hubraum auf 2,0 Liter erweitert – 94,5mm Hub der Kurbelwelle und eine auf 81,5 mm (statt 79,5) vergrößerte Bohrung und vier Spezial-Muldenkolben machten es möglich. 136 PS kitzelten die Motoren-Magiere so aus dem Triebwerk heraus – atemberaubend für damalige Zeiten. Die Motorgehäuse wurden allerdings für den Umbau wegen des engen Kurbelraumes Stück für Stück ausgewählt. Denn von den Motorblöcken musste seitlich für den freien Durchgang der 94,5mm-Kurbelwelle Material entfernt werden. Dafür eignete sich nur etwa die eine Hälfte aller Motorblöcke. Der Grund: Gussversatz bei der Herstellung. (Die anderen Motorblöcke waren indes ebenso von Nutzen. Denn auf ihr bauten die 1,8-Liter-Varianten auf). „Erst einmal warm gefahren“, schwärmte „sport auto“ im April 1980, „ entlädt sich ein wahres Leistungsgewitter. Sanft, aber bestimmt, nach hinten in den Sitz gedrückt, verfolgt der Fahrer, wie sich die Nadel des Tachometers ganz geschwind der 100 km/h-Marke nähert – in genau 7,4 Sekunden.“ 

Oettinger-Sciroccos im Motorsport

Oettingers nimmersatter Entwicklungsdrang nach Leistungssteigerungen von Serienmotoren des VW-Konzerns musste unausweichlich irgendwann auch in einer Startaufstellung münden. Ab 1976 mischte Oettinger also auch im Motorsport mit. Er verpflichtete Rüdiger Dahlhäuser als Werksfahrer für den Deutschen Automobil-Rundstreckenpokal. Der hatte als Privatfahrer in der Saison zuvor Unglaubliches geleistet und mit seinem gelben Scirocco die Tourenwagenklasse bis 1600 ccm vor der BMW-Phalanx gewonnen. 1976 diente der VW-Junior-Cup der Talentförderung und der Markteinführung des schnellsten straßenzugelassenen Sciroccos. Oettinger war mit zwei sportlichen Cup-GTIs dabei. Doch durfte der Motoren-Magier hier keinen Zuschauer mit seinen PS-Künsten verzaubern. Denn alle 50 Sciroccos mussten baugleich an den Start gehen, alle schwarz lackiert, alle 110 PS stark. Zu den Nachwuchspiloten (bis 30 Jahre) gehörte der spätere Gesamtsieger Manfred Winckelhock, dessen Karriere als 24jähriger mit diesem Nachwuchspokal begann. 80.000 Zuschauer im vollbesetzten Motodrom von Hockenheim wurden Zeuge seines ersten Sieges! Beim späteren Flugplatzrennen auf Sylt stahl den Nachwuchsrennfahrern ein Gast mit seinen „groovenden“ Pirouetten die Show. Rockstar Udo Lindenberg drehte sich mehrmals unfreiwillig gleich in der ersten Runde, landete aber wenigstens sanft in einer Wiese. 1976 und 1977 startete Oettinger-Werksfahrer Rüdiger Dahlhäuser beim Deutschen Rundstreckenpokal in der 1600er Klasse der Gruppe 2 und erreichte beachtliche Ergebnisse, so 1976 einen zweiten Platz beim 300-km-Rennen auf dem Nürburgring oder 1977 einen dritten Platz beim ersten Rennen in Hockenheim. Sein Oettinger Gruppe 2 Scirocco leistete bei nur 1,6 Litern immerhin 170 PS. Das Leichtgewicht (775 kg) schaffte eine Spitze von 200km/h. „Der Oettinger-Scirocco“, konstatierte „sport auto“ in einem Vergleichstest (07/1977) von Gruppe 2-Sciroccos auf dem Hockenheimring, „vermittelt fast das Gefühl, ein Straßenauto zu bewegen, sieht man von der aggressiven Geräuschkulisse ab.“ 

Nach seiner Rennkarriere verblich der Oettinger Scirocco in der Scheune eines Sammlers. Inzwischen ist er jedoch längst wieder perfekt restauriert. Als historisches Rennfahrzeug ist er heute im Besitz der Autostadt Wolfsburg. Doch steht er nicht etwa im Museum „ZeitHaus“ als einer von vielen automobilen Meilensteinen, „die den Fortschritt beflügelt haben“ - wie etwa der Citroen 2 CV (Ente“), der Jaguar E-Type oder der Golf I, der eine ganze Fahrzeugklasse begründete. Nein, er muss noch selbst 'ran und wird bei historischen Rennen eingesetzt. So pilotierte ihn Hans Joachim Stuck im August 2014 bei den „Schloß Dyck Classic Days“ im Rheinland. Das ist ihm auch gemäßer. Schließlich war der Oettinger-Scirocco „der erste auf der Rundstrecke erfolgreiche Rennwagen eines Serienmodells von Volkswagen“. Also ein Meilenstein, der auch heute noch für „miles and more“ gut ist... 

16V – die Weltrevolution aus Friedrichsdorf

Die Wiege der heute weltweit üblichen 16-Ventilmotoren für Straßenfahrzeuge stand im hessischen Friedrichsdorf (nördlich von Frankfurt) und nirgendwo anders! Die berühmt gewordene EA 827 Motorenfamilie mit 1,3 Litern, 1,5 Litern und 1,6 Litern Hubraum war auf Grund ihrer Bauart für herkömmliches „Frisieren“ kaum geeignet. Das machte der Scirocco zwar einerseits durch seine besonders gute Aerodynamik und auch durch sein geringes Gewicht wett, aber den Vater aller Motortuner konnte das überhaupt nicht zufrieden stellen. Nur der kleine 1,1-Liter-Motor mit 50 PS für Golf, Polo, Audi 50 und Scirocco hatte merkwürdigerweise einen Querstromzylinderkopf bekommen, der für eine Leistungssteigerung geeignet gewesen wäre. Die stärkeren Versionen jedoch damals nicht. So aber lagen die Ein- und Auslasskanäle auf einer Seite, was eine erhebliche Verbesserung des Strömungsverhaltens im Motorkopf unmöglich machte. Also - sinnierte Oettinger - musste ein eigener Vierventil-Zylinderkopf für den 1,6 Liter-Motor (auch für den Scirocco) her. Er ließ sich 1976 dazu vom überragenden Cosworth-Aggregat aus der Formel 1 inspirieren. Wie stets und bis zum heutigen Tage galt für die Konstruktion die Maxime, einen optimalen Drehmomentverlauf schon aus niedrigen Drehzahlen zu gewährleisten. Auch die Lebensdauer durfte keinesfalls unter der Revolution für Verbrennungsmotoren leiden. Nach erfolgreichen Probeläufen konnte die 16-V-Neuheit mit damals sensationellen 136 PS bereits ein Jahr später auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt von internationalem Publikum brillieren. Doch es bedurfte weiterer vier Jahre akribischer Entwicklung und Erprobung bis hin zur Serienreife. Ab Herbst 1981 schließlich war die Weltrevolution, der Oettinger 1,6-Liter 16V-Motor, offiziell lieferbar. 

„auto, motor und sport“ testete ihn in einem Golf I GTI schon Monate zuvor und resumierte in Ausgabe 03/81: „Ein kräftiger Tritt auf das Gaspedal zeigt sein wahres Gesicht. Die Art und Weise, wie er dann gewohnte Drehzahlbereiche hinter sich lässt, drängt den Vergleich mit einer Turbine auf. Bei 6.500/min, wenn andere Golf GTI-Fahrer zum Schalthebel greifen, ist der Sechszehnventiler erst richtig in seinem Element. 8000/min schüttelt er aus dem Ärmel.“ Gegenüber einem handelsüblichen Golf GTI (9,1 Sek) beschleunigte der Oettinger von Null auf 100 km/h in 7,5 Sek und erreichte eine Endgeschwindigkeit von 201,1 km/h (Serie: 185,6 km/h). 

Der VW-Konzern selbst zog vier Jahre später mit einem eigenen 16-Ventiler im Scirocco II (Typ 53 B) nach. Er nutzte die Oettinger-Grundkonstruktion und holte aus einem 1,8-Liter-Motor 139 PS, (129 PS mit Kat) heraus. 

Doch zu diesem Zeitpunkt war Oettinger schon längst bei einer Hubraum- und Leistungssteigerung auf 2,0 Liter und 170 PS angelangt...